Stimmen der Gegenwart – Geschichten aus dem Schreibhain

Stimmen der Gegenwart – Geschichten aus dem Schreibhain

Vierundzwanzig Schriftsteller*innen aus dem Umfeld der Autorenschule Schreibhain in Berlin beleuchten in Kurzgeschichten, Erzählungen und Gesichten die Phänomene unserer Gegenwart. Sie thematisieren zeitloseStoffe, die den Strömungen der Jetztzeit unterworfen sind und diese dann spiegeln. In Ton und Thema sehr unterschiedlich, aber immer im Wissen um die Brüchigkeit unserer scheinbar sicheren Existenz. Wenn Literatur uns an die Grenzen unserer Welt führen und uns darüber hinausblicken lassen kann, kann sie alles, schreibt Herausgeberin Tanja Steinlechner.

Meine Geschichte in der Anthologie heißt:

Pegelstand: Zinnoberrot

Ich habe sie in der Autorenschule Schreibhain angefangen zu schreiben. In ihrer ersten Fassung war sie eine Semester-Abschlussarbeit zum Thema 09/11.

Pegelstand: Zinnoberrot ist ein Sidekick, besser gesagt ein Futurekick. Ich fragte mich, was meine wunderbare Hilde, eine der Hauptfiguren aus „Fremde Wellen“ wohl an diesem Tag im September 2001 gemacht hätte. Hilde ist in Pegelstand: Zinnoberrot dreiundneunzig Jahre alt. Sie lebt in einem Altersheim und ist ein wenig mehr als „altersgerecht tüdelüt“.

So fängt meine Geschichte an:

Das Wasser in ihrem Kopf stieg sicher unaufhörlich. Meine Berechnungen ergaben, dass in Kürze eine Jahrhundertflut bevorstand, ihr Pegelstand war schon seit Wochen knapp unter dunkelrotem Alarm und die Dienstage hatte ich auf der Skala allesamt orange oder hellrot umrandet. Das Wasser allein war nicht das Problem, Menschen sind schließlich Wasserwesen. Aber die Erinnerungen an die Heimat und an ihn setzten ihr zu, als würde eisiger Novemberwind wütend Wellen peitschen.

Mehr aus Pegelstand: Zinnoberrot:

Wie spät? Wann kommt Ernst? Wo bleibt der Dussel? Er kommt doch? Wie spät?“ Wut und Verzweiflung in ihrer Stimme. „Oma, es ist 13.52 Uhr.“ Zu versprechen, dass mein Großvater sicher noch käme, brachte ich niemals übers Herz, auch wenn sie es doch gleich wieder vergessen würde. Opa Ernst wurde lange vor meiner Geburt für tot erklärt, untergegangen auf der „Wilhelm Gustloff“ am 30. Januar 1945. Obwohl ich sonst im Schwindeln durchaus Talent hatte, belog ich sie nie. Oma sollte Oma bleiben und kein Kind werden. … 

Oma hasste die See, die ihr den Mann genommen hatte. Sie hatte es mir als Kind erzählt, immer wieder. Wie das eisige Wasser der Ostsee Opas Lungen füllte. Wie der Sauerstoff aus seinem Blut wich, als er langsam in die Tiefe sank. Wie er sich in den Trümmern des Ozeanriesens verfing, sich an Leichen schmiegte. Unter den Wellen begraben, von Muscheln verziert, von Fischschwärmen verzehrt. Ich dachte, woher weiß Oma das so genau? Sie war doch gar nicht dabei gewesen. Dann beteten wir zu einem Gott, der grausam war und Oma Hilde sang ein wenig aus der Melodie gefallen: „Guten Abend, gut’ Nacht! Mit Rosen bedacht. Mit Näglein besteckt. Schlupf unter die Deck’…

Ewig lange hatte sie nicht mehr so viele Sätze hintereinander gesagt, die nicht: Wie spät? Wann kommt er? Er kommt doch? lauteten. Vielleicht brach heute die Sonne noch einmal durch die Wolken und es wurde, wenn schon nicht chiffongelb, wenigstens hellorange. Oma zupfte heftiger und die Polin verdrehte die Augen. Vollkommen meschugge die Alten, alles vergessen die, nur die Ansprüche nicht, sagte ihr Blick. Sie flüsterte: „Ihre Heimat gibt es nicht mehr. Sie können niemals dorthin zurück.“ Hatte sie das wirklich gesagt? Ich sollte mich beschweren. Die Vergangenheit war natürlich Vergangenheit, nur für Oma war sie Gegenwart. Das hatte doch nichts mit Ansprüchen zu tun. Oma Hilde starrte die Polin an. „Wer sind Sie? Sie sind entlassen, Sie Dussel, Polackin“, rief sie, „wie spät?“ „Zwei Minuten später als eben“, war keine gute Idee. Oma Hilde schluchzte laut auf, als wäre der verdammte Frosch aus meiner in ihre Kehle gesprungen. „14.27 Uhr, Oma“, sagte ich schnell. „Ich freu mich“, jubelte sie und klatschte in die Hände.

Autorenschule meines Herzens – der Schreibhain

Auch wenn ich nur zwei Semester dort war, bleibt der Schreibhain meine Schreibheimat. Dort hatte ich auch die Idee zu meinem Romanprojekt „Fremde Wellen, auch wenn ich mich mit einem ganz anderen Romanvorhaben beworben hatte. Tanja Steinlechner war die erste, der ich von Hilde und Lilo vorgeschwärmt habe. Von Anfang an war sie begeistert und glaubte an mich und meine „Wellen“. Sie tut das weiterhin, auch wenn ich an der vierten Überarbeitung schraube, und der Roman immer noch nicht fertig ist, auch dafür danke Tanja!

Die Autorenschule Schreibhain kann ich allen (angehenden oder auch gestandeneren) Schriftsteller*innen wärmstens empfehlen: kompetente Dozent*innen, wertschätzender und liebevoller Umgang mit Ideen, Stoffen und ihren Urheber*innen. Feiern können die da auch noch, was braucht es mehr für eine Schreibheimat?!

Mehr über die Autorenschule meines Herzens: https://schreibhain.com

Wer mehr wissen will – und es sind außer meiner natürlich sehr viele andere berührende Geschichten dabei – kann die Anthologie auch käuflich erwerben. Das Buch ISBN 978-3-945610-54-1 gibt es nur als Print, bei Amazon oder direkt beim Simon Verlag für Bibliothekswissen https://www.simon-bw.de

Wer ein von mir signiertes Exemplar möchte, schreibt mir eine E-Mail an: laszlohartmann@web.de oder kontaktiert mich bei Facebook https://www.facebook.com/laszlo.hartmann.3/ oder Instagram https://www.instagram.com/laszlo.hartmann/

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